Ich kann selbst gar nicht nachvollziehen, warum ich dieses Thema nicht schon längst weiterverbloggt habe (naja, von den Gründen, die uns vom generellen Bloggen abhalten, mal abgesehen), schließlich war kaum ein Thema in den vergangenen Jahren so präsent wie die Schwerhörigkeit des Zweitgeborenen.
Bis Oktober 2017 hielt ich euch auf dem Laufenden und berichtete von der umfangreichen Versorgung, die uns ab der Diagnose einer „hochgradigen Schwerhörigkeit“ mit sechs Lebensmonaten zuteil wurde (hier der Post).
Alle vier Wochen kam die Frühförderung, alle sechs Wochen mussten wir zum HNO, alle acht Wochen zur Pädakustik für Einstellungen an den Hörgeräten und einmal im halben Jahr in die Pädaudiologie zur Nachkontrolle, wo er später auch von einer logopädischen Fachkraft analysiert wurde.
Mein Sohn machte alles brav mit und entwickelte sich prächtig. Weder Frühförderer noch Ärzte hatten jemals etwas auszusetzen. Ich dafür umso mehr.
Ein immenser Versorgungsaufwand
Wie man sich zusammenrechnen kann, hatten wir unzählige Termine. Und jeder dieser Termine dauerte lang, oft Stunden. Auf die stundenlangen Wartezeiten bei den Ärzten kamen noch strukturelle Ärgernisse wie Dreifachterminbelegungen in der Pädaudiolgie und kaum telefonisch erreichbare Sprechstundenhilfen oben drauf. Wir hatten eine unfassbare Terminjonglage. Die Frühförderung konnte ich zum Glück irgendwann an die Tagesmutter und später in die Räumlichkeiten der Kita auslagern, weil ich mir für die ständigen Arzttermine immer schon einen Tag frei nehmen musste.

Wir brachten die vielen Termine kaum unter.
So schilderte ich der Krankenkasse den Umstand, dass ich nachweisbar schon 26 Tage im Jahr für die Versorgung meines Kindes der Arbeit fernbleiben muss (ohne Frühförderung immerhin „nur“ 14) und fragte nach mehr Kind-krank-Tagen. Durch die Stunden, die die Termine dauerten und die oft ungünstigen Rahmenbedingungen bezüglich Uhrzeit, Fahrt- und Betreuungszeiten, bekam ich an einem solchen Tag auch keinen halben Arbeitstag mehr unter.
Antwort der Krankenkasse: Sie wollen meine Belastung zwar nicht Kleinreden, aber die Belastung wäre nicht groß genug, um mehr Kind-krank-Tage zu rechtfertigen.
Danke auch.
Eine Erkältung reichte, damit alle Tests und Untersuchungen hinfällig wurden und wiederholt oder verschoben werden mussten. Und wie oft kommt das bei Kleinkinder schon vor…genau, immer.
Wir rotierten wirklich jahrelang, machten ständig Minusstunden, lagerten aus, wechselten uns ab, vereinbarten Termine zu den unmöglichsten Zeiten und tatsächlich musste ich mehr als einmal persönlich zur Sprechstunde gehen, damit ich überhaupt jemanden zur Terminvereinbarung erwischte. Oft musste der große Bruder zu den ewig langen Hörtests mitkommen, was anstrengend für alle Beteiligten war. Natürlich macht man alles, was nötig ist, wenn das Kind diese Versorgung braucht.
Aber brauchte er sie auch wirklich?
Während ich jetzt darüber schreibe, weiß ich auch, warum ich es wohl in den letzten Jahren nicht geschafft habe. Es war belastend und ich habe mich gefühlt die ganze Zeit aufgeregt.

Dazu bin ich per se ein kritischer Mensch, hinterfrage prinzipiell alles und ärztliche Aussagen sowieso, zudem arbeite ich in der Versorgungsforschung. Mir sind Leitlinien nicht unbekannt, außerdem habe ich Zugriff auf medizinische Datenbanken. In einem Satz: ich bin die unbequeme Patientin. Schlimmer: die unbequeme Mutter eines kleinen Patienten.
Berechtigte Zweifel an der Notwendigkeit
Mit fortschreitendem Alter des Kindes und seiner komplett altersgerechten Sprachentwicklung bezweifelte ich immer stärker die diagnostizierte Schwerhörigkeit. Zumindest im Ausmaß einer hochgradigen.
Um vorwegzunehmen, was mir alle Behandler und Behandlerinnen als Totschlagargument entgegneten, um mich zum Schweigen zu bringen: Natürlich ist es wichtig, Kinder mit Hörschädigung so früh wie möglich zu identifizieren und ihnen die komplette Versorgung zuteil werden zu lassen.
Aber – und jetzt kommen wir zu unserem individuellen Fall – was ist mit den Kindern, die dort falsch positiv diagnostiziert werden? Wie viele Kinder erhalten die Diagnose Schwerhörigkeit, obwohl sie es nicht sind?
Wie aussagekräftig sind die Tests wirklich, die die Schwerhörigkeit ermitteln? Wird nach dem Gießkannenprinzip einfach weiterversorgt und nicht individuell überlegt, was davon wirklich nötig ist und was reine Zeit – und Geldverschwendung ist?
Ich sah mir Videos an, recherchiere über die Hörtests, tauschte mich auch, suchte andere Ärzte.

Meine Nachfragen und (wie sich später herausstellte berechtigten) Zweifel wurden im netten Fall übergangen und in den weniger netten Fällen komplett abgeschmettert. Wirkliche Antworten erhielt ich nie. Nur sowas wie Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Unvergessen war da der Streit mit einer Kinderärztin bei der U7 über Sinn und Unsinn des Neugeborenen-Hörscreenings, die mir empfahl, bei meiner Unzufriedenheit doch auch wirklich die Uniklinik zu wechseln, um dann geläutert zurück zu kommen. Oder die arroganten Chefärzte, die sich so sicher in ihrem Elfenbeinturm der Koryphäenhaftigkeit fühlen, dass keiner auch nur ansatzweise ihre Diagnostik in Frage stellen durfte. Denn wo nichts ist, kann auch nichts nachreifen.
Sowas musste ich mir anhören. Dabei gab man mir ständig das Gefühl, ich würde mein Kind nicht ausreichend versorgen wollen, nur weil ich nachfragte, was nötig sei und was nicht. Das regte ich mich tierisch auf. Denn:
Natürlich ist es wichtig, Kinder mit Hörschädigung so früh wie möglich zu identifizieren und ihnen die komplette Versorgung zuteil werden zu lassen. (siehe oben)
(an dieser Stelle ist zu erwähnen, dass solche Gespräche tatsächlich auch Ansporn waren, meine Promotion doch noch durchzuziehen, damit ich auf jedem KACK Anamnesebogen in jeder VERDAMMTEN Praxis diesen BESCHISSENEN Dr.-Titel eintragen kann. Denn JA, ich weiß AUCH, wovon ich rede. Weder unsere Versorgungslandschaft, noch die Ärzteschaft ist unfehlbar)
Angemessene Versorgung
Das Kind wurde also älter und zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Als er mit 2,5 Jahren einen stabilen Wortschatz erreichte, traute ich mich, die Hörgeräte auszulassen und das Kind ohne zu beobachten. Ständig belästigte ich mein Umfeld, ob sie meine Vermutung einer Fehldiagnose teilen würden. So musste auch Lerche, die sich mit Sprachentwicklung im Kindesalter bestens auskennt, mein Kind bei ihrem Besuch im Sommer 2018 beobachten und mir ihre Einschätzung mitteilen.
Der HNO war zu dem Zeitpunkt der einzige Arzt in der Versorgungskette, der mir wirklich zuhörte. Er sah meinen Sohn zwar regelmäßig, aber immer nur kurz und nur zu solchen unangenehmen Behandlungen wie der Gehörgangreinigung (das Kind hasste ihn). Er machte eigene Hörtests und bestätigte zwar die auffälligen Werte, sprach aber nach meinen Nachbohrungen offen über die Fehleranfälligkeit der Testungen. Er wand sich zwar, gab aber schließlich eine erstaunlich hohe Prozentzahl an Kindern an, die er im Laufe der Zeit in seiner Praxis als falsch schwerhörig diagnostiziert sah.
So konnte ich mit ihm, als das Kind drei Jahre alt wurde, einen alternativen Behandlungsplan festlegen und vor den nächsten Tests in der Pädakustik und Pädaudiologie eine Röhrchen-OP planen lassen. Ein Paukenerguss (Flüssigkeit im Ohr), der bei Kleinkindern extrem häufig ist, kann auch dafür sorgen, dass die Trommelfelle nicht mitschwingen und dementsprechend wirklich zur Schwerhörigkeit führen.
Das Kind wurde also mit fast drei Jahren operiert, bekam zur Entlüftung des Gehörgangs Paukenröhrchen eingesetzt und eine Trommelfell-Parazentese (Absaugen von Flüssigkeit).
Er zeigte anschließend in allen Hörtests normale Werte. Das Kind war von heute auf morgen normalhörend. Von einer hochgradigen Schwerhörigkeit zu normalhörend. (ich kann es heute immer noch nicht oft genug sagen)

Ein paar Tests waren nach wie vor auffällig, weshalb weiterhin von einer Funktionsstörung des Innenohrs ausgegangen wird. Dennoch scheint mein Kind aber wohl zu den 5% – in diesem Gespräch gab es doch plötzlich eine Zahl – zu gehören, bei denen die Störung ohne Hörverlust einhergeht. Trotzdem verschlechtert sich bei 30% eben dieses wieder.
Deshalb gehen wir mit ihm regelmäßig zu den Nachkontrollen in die Pädaudiologie (die weiterhin keinen Hörverlust messen können) und auch zum HNO. Letzten Winter hatte er seine zweite OP, da er wirklich dauerhaft Paukenergüsse entwickelt.
Wir sind also nach wie vor in regelmäßig bei den Ärzten und Ärztinnen, trotzdem ist vor einem Jahr eine riesige Last von unseren Schultern gefallen. Er braucht keine Hörgeräte und auch keine Frühförderung mehr; die meisten Zukunftssorgen diesbezüglich haben sich einfach aufgelöst.
Denn auch wenn ich im Artikel hauptsächlich über den rein zeitlichen „Aufwand“ gemeckert habe, die ständigen Sorgen und Gedanken waren ebenfalls eine Last.
Daher finde ich, dass Eltern auch bei o.g. Gründen (siehe Zitat) immer zu 100% aufgeklärt werden sollten. Die Versorgung muss transparent sein. Auch Laien sind fähig, mit Prozentzahlen umzugehen oder die Diagnosesicherung zu verstehen. Ich fand den Umgang mit uns teilweise unverschämt, ignorant und völlig unangemessen.
Zugegeben musste ich mir am Ende ein „Ach? Lagen Sie etwa falsch? Das Kind hört normal? WIE ICH SEIT ZWEI JAHREN SAGE???!“ echt verkneifen. Aber ich bin ja nur die Mutter, was weiß ich schon…